75-jähriges Jubiläum der LAG KJS NRW "Weiterdenken in Chancen"

Jugendhilfe

Düsseldorf, 22.11.2022. Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft, Kirche und Praxis der Jugendsozialarbeit waren unter dem Motto „Weiterdenken in Chancen“ zum 75. Jubiläum der Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit nach Düsseldorf eingeladen.

Stefan Ewers (Geschäftsführer), Dietmar Vitt, Maria Meurer-Mey, Frank Janßen (alle Vorstand)

Der Vorstand skizzierte die Entwicklung und die politische Arbeit der LAG KJS NRW in den letzten 75 Jahren und verwies auf die aktuellen Herausforderungen und gesellschaftlichen Krisen, denen junge Menschen ausgesetzt sind und auf die eine politische Interessensvertretung reagieren muss. Gleichzeitig ist die Katholische Jugendsozialarbeit konfrontiert mit dem Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust, den die katholische Kirche insgesamt durch den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch Geistliche und die unzureichende Aufarbeitung erlebt. Vorstand Frank Janßen betonte, dass sich auch hier die katholische Jugendsozialarbeit deutlich positionieren müsse. Auch wenn in den Einrichtungen auf Diözesanebene schon viel an Präventionsarbeit geleistet werde, müssten im Kontakt mit den Trägern noch stärker Strukturen von Macht, sexueller Ausbeutung und fehlendem Schutz in den Angeboten und Einrichtung angesprochen und problematisiert werden, so Janßen.

Staatssekretär Lorenz Bahr

Staatssekretär Lorenz Bahr verwies in seinem Grußwort auf den Auftrag des Staates, gleiche Chancen für alle Kinder und Jugendliche von Anfang an zu gewährleisten. Er betonte hierbei u.a. die unverzichtbare Zusammenarbeit mit den Trägern und Einrichtungen der Katholischen Jugendsozialarbeit. Durch diese subsidiäre Kooperation könne Unterstützung flexibler, dynamischer und näher an den Menschen erfolgen. Er ermutigte in diesem Zusammenhang alle Beteiligten, im Sinne des Mottos, in Chancen weiter zu denken, um Armut zu bekämpfen, den Jugendschutz weiterzuentwickeln und die Beteiligung junger Menschen strukturell stärker auszubauen.

Dr. Antonius Hamers

Dr. Antonius Hamers vom Katholischen Büro NRW unterstrich das Engagement und die Grundhaltung katholischer Träger. Sie gäben die jungen Menschen nicht auf, sondern stellten sie unabhängig ihrer Herkunft, religiösen Prägung oder Identität in den Mittelpunkt ihrer Arbeit und förderten durch das personale Angebot die persönliche Entwicklung jedes einzelnen. Und dies in Zeiten, in denen vielfältige gesellschaftliche Krisen die Situation junger Menschen beeinträchtigen und in denen der Fachkräftemangel auch in der katholischen Jugendsozialarbeit immer spürbarer werde. Die schwierige Fachkräftesituation werde noch zusätzlich verschärft durch die schleppende Missbrauchsaufarbeitung und den Vertrauensverlust innerhalb der katholischen Kirche. Die Katholische Kirche werde aber im Rahmen der von der Landesregierung geplanten Fachkräfteinitiative mit ihren Bildungseinrichtungen und Hochschulen ebenfalls einen Beitrag dazu leisten.

Wiebke Jessen

Einen Einblick in die Lebenswelt junger Menschen, mit dem spezifischen Blick auf das prekäre Milieu, skizzierte Wiebke Jessen vom Sinus-Institut und stellte dabei deren beruflichen Wünsche und Perspektiven dar. Sie arbeitete heraus, wie schwierig es viele haben, den eigenen Leistungsanspruch mit den für sie begrenzten Möglichkeiten und den widersprüchlichen Botschaften von Seiten der Gesellschaft auszutarieren. Damit pädagogische Unterstützung wirksam sein könne, brauche es Konzepte, die an den individuellen Lebensvorstellungen und Wünschen der Jugendlichen ansetzten. Die Gefahr sei hier, dass sich diese Konzepte oft milieuspezifisch an den Themen, Vorstellungen und Vorgehensweisen der pädagogischen Fachkräfte orientierten und damit nicht die Lebenswirklichkeit und die Sprache der jungen Menschen erreichten. Hier müsse ganz individuell geschaut werden, welche Perspektiven und Lebensziele die jeweiligen Jugendlichen hätten.

Dr. Iris Pfeiffer

Die Entwicklung am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt analysierte Dr. Iris Pfeiffer vom Forschungsinstitut Betriebliche Bildung. Die aktuelle regionale, berufsfachliche und qualifikatorische Missmatch-Situation auf dem Ausbildungsmarkt eröffne für viele benachteiligte Jugendliche keine beruflichen Chancen trotz vieler offener Stellen. Die zukünftigen Trends auf dem Arbeitsmarkt, skizziert durch„3 D“ (Decarbonisierung, Digitalisierung, Demografie), gingen einher mit drei möglichen Szenarien: Bestimmte Berufsbilder würden substituiert, die Anzahl junger Menschen nähme durch den demografischen Wandel weiter spürbar ab und die Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt, insbesondere bei Stellen für Helfer*innen und Hochqualifizierte, nähme zu. Pfeiffer plädierte dafür, die Ausbildungssituation an die neuen Herausforderungen anzupassen und die Unterstützung junger Menschen und den Kontakt zu den Betrieben zu intensivieren.

Björn Szymanowski

Damit Jugend die Zukunft der Kirche wird bzw. bleibt, müsse sich die Katholische Kirche mehreren Transformationen stellen, so Pastoraltheologe Björn Szymanowski von der Ruhr Universität Bochum. Er skizzierte, mit welchen Veränderungen Kirche sich befassen müsse, damit sie keine "greise" Kirche werde, sich nicht weiter nur auf bestimmte Milieus konzentriere, sich nicht nur auf ein enges pastorales Handeln in Großpfarreien beschränke und wirksame Mitgestaltung junger Menschen an der strukturellen und inhaltlichen Ausgestaltung unterlaufe – und damit das jugendpastorale Selbstverständnis nicht einlöst und ihre Chance verspielt, dass Jugend die Zukunft der Kirche ist.

Dr. Stefan Ottersbach, Wolfgang Jörg, Frank Janßen, Dr. Iris Pfeiffer, Dr. Anna Grebe (v. li.)

In der anschließenden Podiumsdiskussion ging es um zukünftige konkrete Handlungsanforderungen, um die Chancen für Benachteiligte zu verbessern. Ausgangspunkt der Diskussion waren Statements von sechs Jugendlichen aus Einrichtungen der katholischen Jugendsozialarbeit in NRW. Wolfgang Jörg, Vorsitzender des Jugendausschusses im Landtag NRW, betonte, dass die Unterstützung junger Menschen noch viel stärker bereits im Elementarbereich beginnen müsse. Leider halte Deutschland an einem Bildungssystem fest, das weiterhin die Aufteilung von Kindern in unterschiedlichen Schulformen in jungem Alter vorsieht und – zusammen mit der sozialen Segregation in den Stadtteilen - die Segmentierung der Gesellschaft vorantreibe. Um konkret Verbesserungen zu erreichen, müssten Menschen insbesondere in armen und belasteten Gegenden und Stadtteilen feste und vertrauensvolle Ansprechpartner*innen haben, denn Beziehung und Bindung sei oftmals Voraussetzung für Bildung. Diese Personen dürften dann allerdings nicht in zeitlich befristeten Projekten beschäftig sein. Dafür müsse die Politik die Förderung in Teilen aber neu ausrichten. Dr. Iris Pfeiffer forderte, dass junge Menschen von dem Druck, dem sie heute ausgesetzt seien, entlastet werden sollten. Das werde aus den Aussagen der Jugendlichen sehr deutlich. Die Ausbildungsstrukturen und deren Angebote müssten in ihren Anforderungen an den unterschiedlichen Voraussetzungen der Jugendlichen angepasst werden.

Für Dr. Stefan Ottersbach, Bundespräses des BDKJ, ist der gesellschaftliche Druck auf junge Menschen ein Hinweis auf den Modus, wie wir Gesellschaft heute organisieren. Zur Absicherung existentieller Grundlagen wäre eine Kindergrundsicherung ein wichtiger Schritt, der zu einer größeren Selbstständigkeit in der Entscheidungsfindung beitragen könne. Er betonte, wenn junge Menschen, die gesellschaftlich in vielfältiger Weise widergespiegelt bekommen, dass nicht wert seien, weil sie nichts leisteten, und sich somit nicht als Teil der Gesellschaft empfänden, dass sie dann auch keinen grundlegenden Existenz- bzw. Lebensglauben entwickeln könnten. Diesen zu stärken und damit die Möglichkeit zu eröffnen, sich in seiner Würde zu erkennen, sei grundlegender Auftrag katholischer Jugendpastoral, so Ottersbach. Daher sei das personale Angebot ein zentraler Bestandteil im Selbstverständnis katholischer Jugendsozialarbeit. Um dieses personale Angebot auch in Zukunft zu gewährleisten, bedürfe es weiterhin der Vielfältigkeit unter den Mitarbeitenden, ergänzte Frank Janßen, Geschäftsführer der Kurbel in Oberhausen. Dies sei unter den Bedingungen von Ausschreibungen und dem sich weiter verschärfenden Fachkräftemangel eine große Herausforderung für die Träger und Einrichtungen vor Ort.

Stefan Ewers

Die LAG KJS NRW dankt allen, die mit uns dieses Jubiläum gefeiert haben und die zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen haben!

Jürgen Becker, Köln
Moderation: Dr. Anna Grebe, Berlin
Licht/Ton/Technik: Ultra-Schall, Düsseldorf
Catering: Tafelwerk, Düsseldorf
Location: Townhouse, Düsseldorf
Gestaltung: Roland Pecher, Köln
Fotografie: Maria Schulz, Köln

sowie: Osama, Sara, Sascha, Iman, Kai und Meron

 

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Text: Franziska Schulz (LAG KJS NRW)

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